Schriftrolle 21 (Gastseher Mirko Osterthun)
"V"
Nervös blickte ich auf die Uhr, stehend vor den metallischen, glasigen
Schilden der heiligen Hallen. 14.32 Uhr sollte es sein, als ich mich
endlich dazu entschloss, zerfroren und die Sinne bis zum äußersten
sensibilisiert, den geweihten Ort, den ich vor so langer Zeit
verlassen hatte, zu betreten.
Was mich hier wieder herführte, konnte
ich nicht sagen, nur dass mich eine innere Krafft dazu antrieb. In
meinen Gedanken schweifend war ich gerade im Begriff meine ehemalige
Schule zu betreten, in der sich soviel Sagenhaftes aber auch
Erschreckendes ereignete. Mein Verstand registrierte erst nichts,
zumindest nichts Ungewöhnliches, aber meine Instinkte schlugen
andauernd Alarm. Ich betrachtete die Schüler, die still und
konzentriert an einem Tisch saßen und irgendwelche Aufgaben tätigten;
es wirkte ziemlich friedlich! Mein Blick schweifte weiter in der Aula
umher, es war fast alles beim Alten geblieben, sogar die alte große
Uhr hing noch an der Wand. „Doch Moment! Wieso steht sie auf dem
Kopf?“ Ein ziemlich makaberer Scherz der Schüler, dachte ich mir noch,
dennoch versuchte ich, die Zeit abzulesen. „14.23 Uhr. 14.23?“ Sofort
blickte ich auf meine Uhr, denn ich wollte es bestätigt wissen, dass
ich dieses „Wunderwerk der Technik“ endlich entsorgen konnte.
„Ständig geht sie vor“, dachte ich mir noch, während ich auf das
Ziffernblatt sah, und - mir stockte der Atem. Auf 14.23 Uhr stand sie
ganz unverfroren.
Das kann doch nicht sein, vorhin zeigte sie mir noch
9 Minuten mehr an, was zum ... . Urplötzlich fiel mir auf, dass eine
Totenstille herrschte, keine Geräusche, kein Atmen, nichts mehr und
die Uhren - sie standen. Meine visuellen Sinne suchten sofort die
Schülergruppe, die anderen Sinne sondierten im alarmbereiten Zustand
weiter. Mein scharfer Blick erfasste die Schülergruppe sofort, wie
eine lasergenutzte Zielerfassung. Doch die Schüler verharrten jetzt
wie Puppen in der Position, in der ich sie zuletzt sah. „Die Zeit muss
stehen geblieben sein oder ist sogar rückläufig“, dachte ich. „Irgend
etwas stimmt hier nicht!“ Ich hatte das Gefühl als würde ich auf
einmal in einer anderen Dimension verweilen, in einen anderen
Zeit-Kontinuum. Aber das kann nicht sein! Um mich zu orientieren,
blickte ich völlig irritiert und verwirrt nach draußen, doch was ich
da nun sah, war zu viel für mich. Mir trieb es die Eingeweiden aus,
ich musste mich übergeben. Draußen lagen auf einmal die zerfetzten
Leiber von Schülern die ich vorher außerhalb angetroffen hatte. Zu
diesem Zeitpunk waren sie noch ziemlich lebendig. Sie wurden
regelrecht abgeschlachtet, die Körper zerfetzt.
So weit ich erkennen
konnte, wurde jedem auch ein Teil des Ohres abgetrennt, samt der
darunter liegenden Schädeldecke, so dass das Gehirn zum Vorschein kam.
Allerdings war dieser Leichenhaufen nicht so regungslos wie ich erst
dachte, denn urplötzlich bemerkte ich Bewegung inmitten der
terminierten jungen Menschen. „Bewegung? Innerhalb der Schule stand
die Zeit still, außerhalb nicht, und wieso wurde ich nicht von diesen
irrationalen Ereignis betroffen, und woher kommen die Vernichteten?“
fragte ich mich verwirrt. Meine Synapsen waren hochgradig erregt und
mein Gehirn war kurz vorm Kollaps, denn mein Verstand konnte für dies
alles keine Erklärung finden; doch meine Neugier war stärker als die
Ohnmacht. Ich musste wissen, was passiert war und versuchte deshalb
meine Augen an die Entfernung zu gewöhnen, um diese Bewegung genauer
identifizieren zu können. „Meine Phantasie kann nur mit mir
durchgehen“, dachte ich noch, denn was sich mir da offenbarte, konnte
nur ein Altraum sein. Inmitten der Leichen richtete sich jemand auf,
der nach der äußerlichen Anatomie einem Menschen glich, aber auch
irgendwie wieder nicht; und dieses Wesen war gerade im Begriff, einem
Terminierten eine mir unbekannte Apparatur am Schädel, in Höhe des
Ohres, zu verankern. Einer der wenigen, der noch ein vollständiges Ohr
besaß. Nachdem es dieses getan hatte, verweilte es. Ich nutzte somit
die Gelegenheit mir dieses böse "Etwas" genauer anzusehen, denn ich
vermutete es als die Ursache für diese Grausamkeiten. Es sah im Grunde
genommen wie ein menschliches Wesen aus, es hatte bloß eine ziemlich
blasse und dünne Haut; so dünn, dass man aus großer Entfernung jede
einzelnen Blutgefäße erkennen konnte. Außerdem war da noch diese
Glatze, die von zahlreichen Narben durchsetzt war. Dann diese eng
anliegende schwarze Kleidung. Doch was mir mehr den Magen umdrehte,
war am Kopf des Wesens zu finden. Knapp unterhalb des Ohres - in der
Nähe der Schlagader - saß irgend etwas Schwarz-Violettes; es sah mehr
aus wie die Verkrustung einer eiternden Wunde, wie eine lebhafte
Substanz, welche mit kleinen Schläuchen dem Hinterkopf verbunden war.
War es eine zweite Intelligenz, ein Parasit oder eine organische
Fernbedienung? Demnach muss dieses Wesen willenlos sein. Gibt es eine
noch stärkere, bösere Krafft als dieses Wesen und... und... - während
ich mich weiter in Spekulationen übte, erwachte, zu meinen Erstaunen,
der Terminierte, dem diese Apparatur am Schädel verankert wurde, zu
neuem Leben.
Sein Leib regenerierte sich in rasender Geschwindigkeit
und er stand auf, als wäre nichts passiert. Ich konnte jetzt deutlich
ein schwarz-violettes Schleimgeflecht unterhalb des Ohres an ihm
erkennen und allmählich begriff ich. „Dieses Schleimgeflecht ist
vermutlich wirklich lebendig, es ist bloß auf einen Wirt angewiesen!
Anscheinend wird eine Kompatibilität vorausgesetzt, die wohl nicht bei
jedem Wirt gegeben ist. Das würde die abgetrennten Teile des Schädels
der anderen Liquidierten erklären. Unterhalb des Ohres ist wohl die
Schnittstelle des Schleimgeflechts mit dem Gehirn des Wirtes, zugleich
wird wohl die Versorgung mit Nährstoffen durch die Halsschlagader
gewährleistet“, sagte ich mir im stillen. Scheinbar hatte dieses Wesen
einen Wirt für dieses Schleimgeflecht gesucht und, wie man unschwer
erkennen konnte, einen gefunden. Dabei war es wohl egal, wie viele
dabei terminiert werden würden, da der kompatible Wirt durch
irgendeine fremde Krafft wieder regeneriert würde. Abgesehen von dem
flauen Gefühl in der Magengegend fühlte ich mich schon eine ganze
Weile beobachtet. Nicht von den Wesen, sondern von jemandem, der
hinter mir stand; ich spürte dies ganz deutlich. Da meine Neugier dem
Wesen gegenüber befriedigt war, entschloss ich mich, meinen Kopf
minimal zu drehen, um unauffällig nach hinten blicken zu können. Und
tatsächlich, im äußersten Winkel meines Sehbereichs erkannte ich
jemanden. Die Gestalt wirkte verschwommen, aber ich meinte, ich konnte
ein hängendes Augenlied erkennen. Ich wollte die Gestalt übertölpeln,
indem ich mich ihr rasch zuwendete. Doch plötzlich vernahm ich wieder
menschliche Geräusche, eigentlich mehr Gelächter und die Gestalt war
weg, einfach verschwunden. "Das gibt es doch einfach nicht!" brodelte
es in mir. Stattdessen blickte ich in die grinsenden Fratzen der
Schüler, die wieder zu neuen Leben erwacht waren. „Wieso grinsen die
so blöd?“ dachte ich mir. Ich verstand erst nicht was los war, erst
als ich diesen übelriechenden Geruch bemerkte. Ich hatte ihn wohl die
ganze Zeit ignoriert. Es war scheinbar wirklich belustigend, wenn man
in seinem eigenem Erbrochenen steht. Es hatte sich somit wieder alles
der gewohnten Realität zugewandt. Denn auch die Wesen, die ich jetzt
die "Nicht-Verschonten" nenne, und die Liquidierten sind verschwunden.
Ich richtete mein Augenmerk sofort der Wanduhr zu. Sie hing wieder
richtig herum, doch ich verstand immer noch nicht, warum sie genau
wie meine Uhr 9 Minuten nachging. Und wo war die Gestalt geblieben,
die hinter mir stand oder hatte ich mir das alles nur eingebildet?
Nachdem ich mich entschloss diesen Unrein, den ich hinterlassen hatte,
zu entfernen, begab ich mich zur Toilette, um mich zu säubern. Ich
versuchte mein Gesichtsfarbe mit kalten Wasser wieder zu normalisieren
und als ich in den Spiegel blickte, sah ich Dr. Krafft, meinen
ehemaligen Oberstufenkoordinator. Die subtile Macht seiner bloßen
körperlichen Anwesenheit war beängstigend, sein hängendes Augenlied
umso mehr beeindruckender. Augenlied? War er es, der während meiner
Vision die ganze Zeit hinter mir stand? War es überhaupt eine Vision?
Ich wollte es wissen und drehte mich zu ihm, doch war er verschwunden.
Stattdessen lag eine Duracell-Batterie auf dem Boden. Als ich sie
neugierig in die Hand nahm, vernahm ich plötzlich eine Stimme aus dem
Nichts, die sagte: "Verstehe Seher und du wirst verstehen". Während
ich über diesen Satz nachdachte, bemerkte ich überhaupt nicht, dass
die Batterie im Begriff war, sich aufzulösen. Erst als meine Hand
anfing zu schmerzen und ich die Batterie reflexartig fallen ließ, war
die Stimme weg. Dafür war in meine Hand ein "V" eingeätzt. „Ein "V"!
Wofür steht das "V"? Für "V - die außerirdischen Besucher kommen? Für
"Vernunft" oder für "Verein der Teilnahmelosen?“ fragte ich mich. Noch
weiß ich es nicht, aber eins ist sicher, die Krafft gibt es wirklich.
Sie hatte sich vor meinen Augen in der Gestallt meines ehemaligen
Oberstufenkoordinators personifiziert. Ich habe es immer für
Aberglauben gehalten, aber es ist tatsächlich war, worüber diese
angeblichen Seher berichteten. Doch scheinbar bin ich nun selbst einer
von ihnen geworden und ich sehe mich somit einer neuen Aufgabe
konfrontiert. Nach der Vision, die mir die Krafft zuteil werden ließ,
gibt es somit noch eine andere Krafft, die wohl das Böse der
Menschheit darstellen soll. Und sie gilt es wohl auszuschalten, da
sie anscheinend immer stärker und mächtiger wird . Allerdings vermag
ich noch nicht sagen, wie man diese Krafft aufhalten könne, geschweige
denn in welcher Form sie sich manifestiert. Ob sie sich überhaupt
aufhalten ließe? Eins ist auf jeden Fall gewiss, der Menschheit droht
die Vernichtung, wenn nicht was unternommen wird. Es sei
denn...natürlich die Zeitverschiebung. Ich verstand jetzt, um zu
verstehen. Ein rascher Blick auf meine Uhr, sie zeigte mir 14.41 Uhr,
sollte mir die Erkenntnis bringen. Ich rannte mit Hast zum
Haupteingang, durchquerte ihn und stand nun vor dem Gebäude. Und wie
ich es mir gedacht hatte, meine Uhr zeigte mir jetzt 14.50 Uhr, also 9
Minuten mehr an. Das ist es also. Die Krafft untertunnelt die morbide
Krafft im Zeit-Kontinuum-Gefüge. D.h. alles was das Böse tun wird,
wird letztendlich völlig irrelevant sein, da die Menschheit sich bald
in einer anderen Dimension befinden würde die gleich der jetzigen Welt
wäre. Die Schule bildet wohl das Zentrum dieser Macht und ist wohl
zugleich Probesektor dieses physikalischen Versuches, ja vielleicht
sogar das Tor zu der anderen Welt.
Stellt sich bloß wieder die Frage,
wie man das Böse daran hindert, in diese Dimension einzudringen und
wie man es schaffen könnte, den Weg in diese Dimension für die
Menschheit zu ebnen. Was ist überhaupt das Böse? Und wie hängt dieses
V damit zusammen? Fragen auf Fragen, die noch geklärt werden müssten.
Auf jeden Fall muß die Menschheit, wenn es so weit ist, auf diesen
Schritt des Überganges vorbereitet werden und es liegt dann an uns,
den Sehern, diese machtvolle Wende vorzubereiten.
Information zum Gastseher:
Mein Name ist Mirco Osterthun, ich bin 25 Jahre alt und ehemaliger
Zögling des geheimnis- umwitterten Bildungsinstitutes, in der die
Krafft weilt und koordiniert. Diese Buchrolle schrieb ich, weil ich
selbst Zeuge der außergewöhnlichen, fast extraterrestrischen
Fähigkeiten meines ehemaligen Oberstufenkoordinators wurde. Doch auch
der Aspekt der gesellschaftlichen Unvernunft beschlich mich dazu, mein
analytisches Wissen in Form dieser Buchrolle niederzuschreiben. Das
Böse ist unter uns, in einer Form, die die Menschheit schon seit jeher
kannte. Ich vermag nun vielleicht Parallelen gezeigt haben, die in
ihrer Fusionierung absurd wirken, doch die Vision ist aus meiner Sicht
eine interessante Verdeutlichung der gegenwärtigen Lage der
Menschheit. Es gibt Gut und Böse, Vernunft und Unvernunft, die Krafft
und die Gegenkrafft. Diese Pole wird es immer geben, doch sollte man
sich wirklich mehr bemühen, diese Gegenkrafft in ihrer Tolerierung zu
mindern. Somit ist eins nicht ungewiss. Fortsetzung wird folgen.